13. Fachtagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit

13. Fachtagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Arbeitskreis Geschlechtergeschichte Frühe Neuzeit
Ort
Stuttgart-Hohenheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2007 - 10.11.2007
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Von
Annette Cremer, Universität Marburg; Carol Nater, Universität Freiburg (CH) Email:

VERONICA BIERMANN (München) eröffnete die Tagung mit dem Vortrag „Die Kunst der Resignation. Eine Annäherung an Königin Christina von Schweden“. In bewusster Abgrenzung zur bisherigen biografischen Forschung, der es vorwiegend darum ging, die „wahre Christina“ zu erkennen, plädierte Biermann für eine ganz neue Sichtweise: Sie stellte das Abdankungszeremoniell der Königin ins Zentrum ihrer Untersuchung und entwickelte davon ausgehend die These, dass der symbolische Resignationsakt einerseits die zeitgenössische Wahrnehmung der abgedankten Königin beeinflusst und andererseits das Leben der Christina von Schweden nach der Entthronung maßgeblich geprägt hatte. Denn der Resignationsakt habe zwar rechtlich Gültigkeit besessen, sei jedoch, so die Argumentation von Veronica Biermann, spirituell nicht durchführbar gewesen. Eine einst im Krönungsritual von Gott Gesalbte konnte nicht „entsalbt“ werden, der eigentliche Krönungsakt war damit irreversibel. Mit der Entkleidung der Majestät wurde Christinas weiblicher Geschlechtskörper wahrnehmbar. In diesem „gendering“ sieht Biermann den Grund für das in der Pamphletliteratur entstandene Bild der „Negativ-Karriere“ von Christina von Schweden. Die einst zum König (sic!) Gekrönte erschien nach ihrer Abdankung „weiblich“, ihre Verhaltensweise und Kleidung waren jedoch nach wie vor „männlich“. Biermann interpretierte diese männlichen Überformungen als bewusst eingesetzte politische Strategie Christinas. Mit dieser These verwirft sie explizit die gängige Vorstellung, Christina von Schweden habe aus einer Glaubenskrise heraus abgedankt. Nur vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes, das durch die Irreversibilität des Salbungsaktes beim symbolischen Akt der Entthronung entstanden sei, könne man sich Christina von Schweden, ihrem Leben und ihren Handlungen historisch annähern.

Den Auftaktvortrag in der Sektion „Konstruktionen von Mütterlichkeit“ hielt CLAUDIA RESCH (Wien), die sich mit seelsorgerischer Geburtsvorbereitung im 16. Jahrhundert beschäftigte. Im Kontext der Reformation und als Ausgleich für die fehlenden sinnlich-haptischen Trostmomente der katholischen Liturgie, suchten lutherische Theologen mittels kleinformatiger Trostbüchlein die Angst der Schwangeren vor dem ungewissen Ausgang der Geburt zu begleiten.

Am Beispiel des Trostbüchleins von Otto Körber von 1550 erläuterte Resch die zeitgenössischen lutheranischen Vorstellungen von Frauen, Geburt und Seelenheil. Der Ausgang der Geburt war allein Gott anheim zu stellen, die Gebete für einen positiven Ausgang nicht an eine Mittelsheilige, sondern direkt an Gottvater zu richten. Das Misslingen einer Geburt sah Körber als von der Frau durch unmäßigen Lebenswandel selbstverschuldet an. Schwangere sollten bereit sein, bei der Ihnen von Gott zugedachten Aufgabe zu sterben. In der Trostliteratur zeigt sich aber auch die hohe Bewertung des mütterlichen Lebens gegenüber dem des Kindes. Die Angst um das Ungeborene bezog sich folglich auch nicht auf den physischen Tod des Kindes, sondern einzig auf dessen Seelenheil.

Resch ordnete die Trostliteratur für Schwangere in die lutherische Traktatliteratur ein, die den Versuch einer Konfessionalisierung lesekundiger Frauen darstellt. In Schriften ausschließlich männlicher Autorenschaft spiegele sich das Ideal der lutheranischen Seelsorge für Mutter und Kind, Geschlecht sei so eine zentrale Kategorie der Konfessionalisierung.

IRIS GRUBER-LA SALA (Erlangen) stellte in ihrem Referat „Das andere Mutterbild – der Kindsmord in französischen und italienischen Texten des 16.-18. Jahrhunderts“ ihr interdisziplinär angelegtes Habilitationsprojekts vor. Sie beabsichtigt anhand historischer und literarischer Quellen (Gerichtsakten, Selbstaussagen, Romane) den Bewertungs- und Diskurswandel des Kindsmordes aufzuzeigen und damit das Kulturell-Imaginäre als Abstraktion von Wirklichkeit ins Zentrum ihrer Untersuchung zu stellen. Medizinisches, juristisches und nicht zuletzt religiöses Schrifttum sollen in Beziehung zu den literarischen Formen der Auseinandersetzung mit dem Kindsmord bzw. dem Mord an (fremden) Kleinkindern gesetzt werden. Die Referentin konstatierte zunächst einen Wandel in der Bewertung des Kindsmordes. Galt bereits das Verschweigen einer Schwangerschaft seit dem Dekret von Henry II. (1556) als weibliches Kapitalverbrechen, wurde im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung das Urteil über die Kindsmörderin gemildert. Ausgehend von der Untrennbarkeit von Fakt und Fiktion versucht Gruber eine Perspektive zu finden, um die zentrale Bedeutung des Kulturell-Imaginären aufzuzeigen. Der narratologische Ansatz soll dazu beitragen, die Realitätsmächtigkeit von Fiktionen zu untersuchen.

In der anschließenden Diskussion wurde vorgeschlagen, verstärkt vom Gebrauchskontext der Quellentexte und nicht von deren „Wahrheitsgehalt“ auszugehen, also bei den literarischen Texten den „Pakt“ zwischen Publikum und Autor zu beachten und die Gerichtsakten in ihrem Gebrauchs- und Entstehungszusammenhang zu betrachten.

DAMIEN TRICOIRE (München / Paris) ging in seinem Referat „Kultur und Struktur – Die Ausbreitung des staatlichen Marienpatronats im 17. Jahrhundert und die Geschlechtergeschichte“ der Frage nach, ob eine geschlechtergeschichtliche Argumentation für eine Untersuchung des Marienpatronats frühneuzeitlicher Staaten Erkenntnis gewinnend sei. Ferdinand II. und Ferdinand III. sowie Louis XIII. haben gleichermaßen Maria als Universalfürsprecherin für sich in Anspruch genommen. Ikonographisch wurde dabei auf den Typus der Immaculata oder der Regina Coeli zurückgegriffen. Das Marienpatronat sei nicht nur Resultat eines Versuchs der Herrschaftslegitimation, sondern auch Ausdruck tatsächlicher Frömmigkeit. Tricoire vertrat die Kontroversen auslösende These, dass Maria als Gottesmutter nicht als „Frau“ wahrgenommen wurde – folglich sei auch das Marienpatronat geschlechtsneutral und die Kategorie Geschlecht spiele keine Rolle. In der Plenumsdiskussion wurde eingewendet, dass Geschlecht nicht nur eine soziale, sondern auch eine analytische Kategorie sei und es wurde zur Vorsicht gegenüber einer geschlechtsneutralen Lesart geraten. Maria als Staatspatronin konnte, so ein zentraler Einwand, erst als Ergebnis eines „Degendering“ funktionieren.

Der zweite Teil des Nachmittags war dem Thema „Geschlecht und neue Politikgeschichte“ gewidmet. Zuerst sprach BETTINA BRAUN (Mainz) über „Frauen zwischen Familie und großer Politik“ im Deutschen Reich. In ihrem Referat ging sie der Frage nach den politischen Rollen der „nicht regierenden Frauen“ nach und verdeutlichte am Beispiel verschiedener Kaiserinnen des 17. Jahrhunderts deren Handlungsspielräume, Aufgaben und Pflichten. Im Vergleich zu den Königinnen in Spanien und Frankreich hob Braun hervor, dass die Kaiserinnen im deutschen Reich nie Regentinnen, sondern stets Ehefrauen des Kaisers waren. Braun zeichnete diese nicht-institutionalisierte Machtausübung von Frauen anhand der Aufgabenbereiche der Kaiserinnen, ihrer Einflussnahme in der Personal- und Familienpolitik und ihrer Rolle im Besucherzeremoniell nach und hob ihre zentrale Bedeutung in der Vermittlung zwischen ihrer Herkunftsfamilie und dem Kaiserhof hervor. Insbesondere mit letzter Aufgabe sei der Kaiserin eine hohe diplomatische Funktion zugekommen, die bisher von der verfassungs- und staatsgeschichtlichen Forschung vernachlässigt wurde.

In der Diskussion wurde die von Braun vorgenommene Einbeziehung der verwandtschaftlichen Netzwerke der Kaiserinnen hervorgehoben und für die Geschlechtergeschichte ein theoretischer Ansatz gefordert, der historische Individuen nicht isoliert betrachtet, sondern diese in ihren Netzwerken verortet. Ausgehend von der Tatsache, dass der traditionelle, verfassungsgeschichtliche Politikbegriff „informelle“, in der Frühen Neuzeit aber zentrale Machtbereiche ausschließt, suchte man im Plenum nach theoretischen und methodischen Modellen, die es ermöglichen, dem „politisch-weiblichen“ Machtbereich mehr Bedeutung einzuräumen. Methodisch wurde vorgeschlagen, verstärkt die Rollen der Frauen im Zeremoniell zu untersuchen. Theoretisch sah man einen Weg von der Dekonstruktion der staatsgeschichtlichen, männlich geprägten Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, hin zu einer neuen Verfassungsgeschichte mit integrierter Genderperspektive.

Der nächste Beitrag von ELLINOR FORSTER (Innsbruck) zum Thema „Politische Kommunikation frühneuzeitlicher Damenstifte – ‚Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme’“ knüpfte an die vorangegangenen Diskussionen zum Politikbegriff an. Forster schickte ihrem Referat voraus, dass der Untertitel von einem Politikverständnis ausgehe, der „Politik“ als etwas Separates, vom „Privatbereich“ Getrenntes denke, was eigentlich nicht der Situation der Frühen Neuzeit entspreche. Sie sei dieser Problematik ausgewichen, indem sie in den letzten Monaten verstärkt mit dem Netzwerkansatz gearbeitet habe. Um den Machtbereich der Äbtissin aufzeigen zu können, stellte sie drei zentrale Kommunikationsbereiche des Südtiroler Damenstifts Sonnenburg in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen: Der erste umfasste die Differenzen mit den Institutionen außerhalb des Stiftes, zum zweiten gehörte die Huldigung zur inneren Festigung und im dritten ging es um die Mitsprache des Stiftes im Tiroler Landtag und die Beziehung zum Landesfürsten. Indem Forster das Schwergewicht auf den zeremoniellen und symbolisch-kommunikativen Austausch legte, war es ihr möglich, die weibliche Machtausübung im Kontext der „institutionalisierten“ landesfürstlichen Herrschaft aufzuzeigen. Sie schloss mit der Beobachtung, dass die Äbtissin auch in ihrer Rolle als Gerichtsinstanz akzeptiert war und dementierte damit das von der bisherigen Forschung konstruierte Bild der „wohlwollenden Mutter“. Als solche sei die Äbtissin auch von den Zeitgenossen nicht wahrgenommen worden, so ihre Quellenbefunde.

Auch CORINA BASTIAN (Bern) ging es in ihrem Referat um „Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Einflussnahmen im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1715)“. Sie untersuchte die Korrespondenz zwischen Madame de Maintenon, „Intermédiaire“ von Ludwig XIV. am Hof von Versailles und der Princesse des Ursins, Kammerdame der spanischen Königin und Beraterin des jungen Königspaares am Hof von Madrid. Da beide Frauen die Beziehungen zwischen dem französischen und dem spanischen Hof maßgeblich beeinflussten und ihre Aufgaben und Handlungsspielräume mit denen von Botschaftern vergleichbar waren, ging Bastian im Referat der Frage nach, ob man von einer „spezifisch weiblichen“ Form der Diplomatie sprechen könne. Dazu verglich sie die Korrespondenz der zwei „amtlosen“ Hofdamen mit der „formalen“ zeitgenössischen Botschafterkorrespondenz nach qualitativen, quantitativen, inhaltlichen und formalen Kriterien. anschließend zeigte sie anhand von Beschreibungen zeitgenössischer Memoirenliteratur auf, wie die Einflussnahme beider Frauen ohne Amtsbefugnisse von außen bewertet wurde.

Im Plenum wurde die Frage diskutiert, was denn nun an dieser Form von Diplomatie „weiblich“ sei. Man kam zum Schluss, dass das aus heutiger Sicht erscheinende „Besondere“ in der bereits mehrmals erwähnten, traditionell polit-historischen Denkstruktur und seiner Begrifflichkeit bestünde, wo Politik nur von offiziellen Amtsinhabern ausgeführt würde.

Den Kernfragen der letzten drei Referate wurde am anschließenden Round Table mit dem Titel „Geschlechtergeschichte des Politischen – neue Perspektiven oder alter Hut?“ nochmals nachgegangen. Unter der Leitung von CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL (Basel) diskutierten Corina Bastian (Bern), MONIKA MOMMERTZ (Berlin / Zürich) und MICHAELA HOHKAMP (Berlin). Die „neue Politikgeschichte“ habe Furore gemacht, aber was kann der Begriff „Gender“ in der neuen Politikgeschichte leisten und ist Geschlecht überhaupt eine sinnvolle analytische Kategorie? Das war die zentrale Frage der angeregten Abenddiskussion. Zuerst diskutierte das Podium allgemein über Macht und Politik in der Geschlechtergeschichte. Feminismus als einer der Kerneinflüsse auf die konservative Geschichtswissenschaft habe die Grenze zwischen politischer und nicht politischer Geschichte schon lange überschritten. Nach einem kurzen Forschungsüberblick zu den frühneuzeitlichen Ansätzen der neuen Politikgeschichte wurde deutlich, dass zwar Kategorien der Kultur- und Sozialgeschichte, insbesonders die Aufmerksamkeit für Zeremoniell und Ritual sowie der Netzwerkgedanke teilweise in die Forschungsansätze der neuen Politikgeschichte integriert wurden, nicht jedoch die Kategorie Geschlecht. Die Podiumsteilnehmerinnen wurden mit der Frage konfrontiert, wie in ihren Augen mögliche Ansätze der Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit innerhalb des Forschungsfeldes der neuen Politikgeschichte konkret aussehen könnten. Michaela Hohkamp argumentierte, dass unser Politikverständnis Resultat einer historischen Entwicklung und zugleich Resultat einer Wissenschaft sei, die diesen historischen Prozess unreflektiert wiederholt habe. Es sei also die Aufgabe der Geschlechtergeschichte, das Fach in seinen Grundfesten zu erschüttern. Sie warnte besonders davor, zeitgenössische Kategorien unhinterfragt zu übernehmen und damit denselben Fehler wie die traditionelle Geschichtswissenschaft zu begehen. Am Beispiel des in der Politikbeschreibung gängigen Begriffs des „Dynastiewechsels“ erläuterte Hohkamp ihre Sichtweise: Die Zuschreibung „Dynastiewechsel“ sei selbst das Produkt eines historischen Prozesses, der darauf basiere, dass Macht geschlechtsspezifisch konnotiert und als solche also schon „vergeschlechtlicht“ sei. Um nicht die zeitgenössische Kategorie unreflektiert zu übernehmen, plädierte Hohkamp für einen neuen Genealogiebegriff, der „Geneagraphie“ lauten könnte.

Monika Mommertz ihrerseits hinterfragte die Kategorie „Geschlecht“ und gelangte zum Schluss, dass Geschlecht allein zur Beschreibung historischer Prozesse nicht ausreiche, schon gar nicht in der Form des individualistischen Verständnisses, dass sich auf das moderne Subjekt beziehe. Sie erinnerte nochmals daran, dass wir unsere Begriffe und Kategorien als Werkzeug verstehen müssen und forderte entsprechend dazu auf, einen neuen Politikbegriff zu kreieren, der das „Gendering“ sichtbar mache, möglichst strategisch die neue Politikgeschichte hinterfrage, geografisch auf Europa anwendbar und zudem geeignet für die Analyse frühneuzeitlicher Gesellschaften sei. Nur am Rande sei vermerkt, dass auch nach Aufhebung des Round Table dieser alles zu leistende Begriff noch nicht gefunden war.

Inhaltlich zielte das erste Referat am Samstagmorgen in der Sektion „Geschlecht und Wissen“ auf die Auflösung des binären Geschlechtsbegriffs. In letzter Konsequenz wünschte HEINZ-JÜRGEN VOSS eine Brechung der geschlechtsgebundenen Pronomina auch beim vorliegenden Tagungsbericht. Die Diplombiologin Voß (Hannover/Bremen) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Konstituierung von „Geschlecht“ in modernen biologischen und medizinischen Wissenschaften. Am Beispiel des – historischen wie aktuellen - Umgangs mit Hermaphroditismus untersuchte sie die Frage, wie gesellschaftliche Vorannahmen in die Medizin eingehen, und umgekehrt die medizinische Forschung gesellschaftliche Annahmen prägen. Dabei begriff sie die binäre Geschlechtlichkeit als Akt der sozialer Herstellung. Medizinische Untersuchungskategorien seien binärgeschlechtlich, die einen Menschen, der mit uneindeutiger geschlechtlicher Markierung auf die Welt kommt, als Störquelle definierten und diesen dann pathologisierten. Die aktuellen Signalkaskaden zur Geschlechterbestimmungen innerhalb der Humanbiologie oder Medizin führten vom genital ridge (Genitalfurche) über die sog. bipotential gonad (undifferenzierte Keimdrüse) zu der Aufspaltung in ovary („weibliche Keimdrüse“: Eierstock) oder testis („männliche Keimdrüse“: Hoden), die dann die weitere Entwicklung des Genitaltraktes durch die „Ausschüttung von Hormonen“ steuerten. Obwohl der derzeitige Erkenntnisstand in der Biologie bereits die Möglichkeit biete, von der binären Beschreibung der Geschlechtsbestimmung abzuweichen, werde in der Praxis die Zugehörigkeitszuweisung zu dem einen oder anderen Geschlecht anhand der Größe von Klitoris-Penis Neugeborener vorgenommen, die standardisierten Maßen entsprechen müssten. Auf allen Ebenen der Geschlechtsbestimmung wirkende Faktoren führten zur graduell unterschiedlichen Ausformung des physischen Geschlechts. Voß plädierte daher für eine Auflösung des traditionell bipolaren Geschlechtermodells.

In der anschließenden Diskussion führte die Annahme einer Zwischengeschlechtlichkeit zu der Frage nach dem Umgang mit diesem Erkenntnisstand bezogen auf die historische Geschlechterforschung. In historischen Zusammenhängen werden die binären Kategorien als relevant erachtet. Das naturwissenschaftliche Paradigma steht demnach einem historischen Entwicklungsprozess gegenüber. Offen blieb die Frage, ob daher notwendigerweise letztlich andere Kategorien oder Codes zur Beschreibung und Begründung sozialer Hierarchien heranzuziehen seien.

ULRIKE KLÖPPEL (Berlin) beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der Entstehung des Konzepts „gender“ und analysiert die historischen Voraussetzungen, Probleme und Konstellationen, unter denen die Kategorie Geschlecht als ein grundsätzlich veränderliches Konstrukt entstand. Exemplarisch für die sexualpolitische Rolle der Medizin berichtete Klöppel von praktischer Geschlechtsklassifikation am Beispiel des Umgangs mit dem Hermaphroditismus im 18. Jahrhundert. In der Aufklärung haben sich die Mediziner zu Experten für Geschlechtsfragen stilisiert. Dies führte u.a. zu einer neuen Definition von Hermaphroditismus, die Kriterien der Geschlechtszuweisung orientierten sich dabei an Menstruation, Hoden und „Neigung“. Ziel und Motivation für eindeutige Geschlechtszuweisung sei in dem Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung sowie der religiösen Absicherung der Zweigeschlechtlichkeit zu sehen. Klöppel konstatierte ein Bemühen der Ärzte, einerseits den Wunsch von erwachsenen Hermaphroditen nach eindeutigem Geschlecht wunschgemäß zu unterstützen, sowie gleichzeitig die Befürchtungen durch falsche Geschlechtszuweisung negative Folgen für das Individuum zu provozieren. Überraschenderweise haben die Ärzte nicht so stark wie vermutet in die Selbstzuschreibungen der eigenen Geschlechtlichkeit eingegriffen. Die Mediziner der Aufklärung intendierten zwar eine Überwachung des (ehelichen) Geschlechtsstatus, verwirklichten diese jedoch nicht.

Die Sektion „Geschlecht und Wissen“ wurde mit einem Vortrag von ULRIKE KRAMPL (Tours) zu „Magie, Schrift und Geschlecht in Paris in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ beendet. Pariser Polizeiakten belegen, dass vorwiegend Männer beschuldigt wurden, magische Dienste gegen Entgelt angeboten zu haben. Ihren KundInnen versprachen sie irdisches Glück, Geld, Liebe, Gesundheit oder sozialen Aufstieg. Der gesellschaftspolitische und kulturgeschichtliche Kontext des Phänomens Wundergläubigkeit stehe einerseits im Kontext der geschlechtsspezifischen Verfasstheit von Glauben und andererseits in der Ausdifferenzierung der Eigentumsverhältnisse, so Krampls These. Zentrales Medium der praktizierten Magie stellten dabei Text und Schrift dar, als gedruckte Rezeptsammlungen in Buchform mit satanischer Markierung oder als handgeschriebene Heilsprüche sowie Geister-Anrufungen, die am Körper zu tragen oder zu rezitieren waren. Die Schriftlichkeit der magischen Praxis rekurriert dabei auf zwei zentrale Momente. Erstens bezog sich die Inszenierung des Magischen Wissens ganz bewusst auf liturgische Praxis und erzielte damit eine Statusanhebung. Zweitens funktionierte die Ausübung der betrügerischen Magie nur über den Zugang zur Schrift, d.h. über die Fähigkeit zu lesen und schreiben. Schrift machte Männer dadurch zu „zentralen Akteuren im Handlungsmodus Magie“. Auf Seiten der Handlungsträger in der Sphäre des Übersinnlichen wurde der schriftliche Raum des männlichen „Magiers“ vorsichtig kontrastiert mit der oralen Überlieferungstradition der weiblichen „Hexe“.

Die anschließende Diskussion betonte die Notwendigkeit, Geschlecht als mehrfachrelationale Kategorie zu konzeptualisieren. Auch wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht das handgeschriebene (und nicht das gedruckte) Buch als Inbegriff von Geheimhaltung und Distinktionspraxis zu verstehen sei. Die Verschriftlichung in Druckform berge die Gefahr der Entzauberung, nur der Handschrift hafte die Aura des Magischen an. Zudem stelle die Inszenierung des Magischen in klarer Anlehnung an das kirchliche Ritual eben diese durch die profane Praxis in Frage.

In der Abschlussdiskussion wurde die methodische Reflektiertheit der einzelnen Referate lobend erwähnt, sowie die Vielfalt der vertretenen Disziplinen und der fruchtbare interdisziplinäre Austausch. Vielfache positive Erwähnung fand die herzliche, offene und anti-hierarchische Atmosphäre der Tagung, nicht zuletzt geprägt durch die phantastische Verpflegung und die ausführlichen Gespräche in abendlichen Runden in der „Trinkstube“ der Akademie Hohenheim. Die nächste Tagung des AK Geschlechtergeschichte Frühe Neuzeit wird vom 6.-8. November 2008 zum Thema „Geschlechterkonflikte“ stattfinden.

[Der Bericht wurde verfasst für die Frühneuzeit-Info, Heft 1 (2008)]

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Veronica Biermann, München
Die Kunst der Resignation. Eine Annäherung an Königin Christina von Schweden.

I. Konstruktion der Mütterlichkeit
Claudia Resch, Wien
„domit die schwangern fawen einen trost zur hand hetten“. Seelsorgerliche Geburtsvorbereitung im 16. Jahrhundert.

Iris Gruber-La Sala, Erlangen-Nürnberg
Kindsmord in französischen und italienischen Texten der Frühen Neuzeit

Damien Tricoire, München / Paris
Kultur und Struktur. Die Ausbreitung des staatlichen Marienpatronats im 17. Jahrhundert und die Geschlechtergeschichte.

II. Geschlecht und neue Politikgeschichte
Bettina Braun, Mainz
Frauen zwischen Familie(n) und grosser Politik. Die Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit.

Ellinor Forster, Innsbruck
Politische Kommunikation frühneuzeitlicher Damenstifte. „Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme“.

Corina Bastian, Bern.
Weibliche Diplomatie? Von den Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Einflussnahme im Spanischen Erbfolgekrieg (1791–1715).

Round Table: Geschlechtergeschichte des Politischen – neue Perspektiven oder alter Hut?
Es diskutierten: Corina Bastian, Bern; Michaela Hohkamp, Berlin; Monika Mommertz, Berlin/Zürich
Leitung: Claudia Opitz-Beelakhal, Basel

III. Geschlecht und Wissen
Heinz-Jürgen Voss, Hannover/Bremen
Konstituierung von „Geschlecht“ in modernen biologisch-medizinischen Wissenschaften. Ausgangspunkt Hermaphroditismus.

Ulrike Klöppel, Berlin
Das „Reich der Hermaphroditen“ entschleiern. Aufklärungsanspruch der Medizin und Theorie-Praxis-Probleme im 18. Jahrhundert.

Ulrike Krampl, Tour
Magie, Schrift und Geschlcecht in Paris in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.


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